Mädchen und Frauen im Spektrum
Angeblich gibt es viel mehr autistische Jungen als Mädchen mit Autismus. In der Forschung variiert das Zahlenverhältnis allerdings erheblich und inzwischen wird angenommen, dass Autismus bei Mädchen schlicht seltener entdeckt und diagnostiziert wird. Eine mögliche Erklärung geht davon aus, dass Mädchen aufgrund gesellschaftlicher Prägung weniger auffällig sind und sich eher anpassen. Zurückhaltung oder niedergeschlagene Augen werden als Schüchternheit interpretiert, Ausgrenzung und Mobbing können heutzutage schließlich jeden bzw. jede treffen, fehlende Kontakte oder merkwürdige Freunde / Freundinnen werden möglicherweise als pubertäre Schwierigkeiten angesehen, Spätentwicklerinnen hat es schon immer gegeben usw. Inzwischen geht man eher davon aus, dass das Verhältnis Jungen zu Mädchen mit Autismus 2 zu 1 beträgt, in der Zukunft wird man allerdings höcht wahrscheinlich entdecken, dass es im Grunde ebenso viele Mädchen wie Jungen mit Autismus gibt.
In „Autism and Girls“ (s. Literaturliste – bisher leider noch nicht übersetzt) wird auf die Grundproblematik von Autismus hingewiesen: Defizite in sozialer Kommunikation und sozialer Interaktion. Die sozialen und interpersonalen Aspekte des Lebens stellen eine andauernde Herausforderung dar und es können drei Umgangsweisen beschrieben werden, wie Autistinnen damit umgehen – wobei dies auf Jungs ebenfalls zutreffen kann, aber hier liegt der Fokus besonders auf Mädchen: die Introvertierte, die intensiv Extrovertierte und die „Tarnkappen-Extrovertierte“ („camouflaging“ extrovert). Völlig klar ist, dass sich autistische Mädchen, wie alle anderen auch, nach Freundschaft sehnen. Doch bereits die Unterscheidung „Bekannte – Freundin – beste Freundin“ mit all den vielfältigen Nuancen dazwischen, für Neurotypische intuitiv erfassbar, überfordert die autistische Person. Soziale Anerkennung gelingt intuitiv nicht, sondern wird gewissermaßen „kopfgesteuert“ durch Beobachtung und Nachahmung zu erreichen gesucht. Klappt das nicht, kann dies zum Rückzug (introvertiert) führen. Ebenfalls möglich ist, dass sich die Betroffene an ein oder zwei andere klammert, die sie für echte Freundinnen hält (intensiv extrovertiert) – und nicht merkt, wie sie denen zur Last wird, weil sie als übergriffig, grenzüberschreitend, zu direkt o.ä. wahrgenommen wird. Zurückweisung und damit verbundene enorme Enttäuschung sind mögliche Folgen. Nach außen am erfolgreichsten ist die Tarnung: Ich tue so, als wäre ich normal (in vielen Texten als „pretend to be normal“ beschrieben). Dies erfolgt nicht bewusst, sondern entwickelt sich über Jahre hinweg als Strategie der Anpassung. Dabei handelt es sich jedoch letztlich um ein ständiges Theaterspielen („masking“) und sich Verbiegen, was hoch anstrengend ist. Eigentlich führt die Person auf diese Weise mindestens zwei Parallel-Leben: Sie ist zwar da, aber nie bei sich selbst, sie agiert und reagiert, lebt jedoch nicht wirklich oder kann das, was geschieht, nicht bis tief in’s Innerste erleben. Es ist ein Leben im Dauerstress, eine Art „Zombie-Dasein“. Unterstützungsangebote von der Umwelt werden nicht gemacht, da der Bedarf gar nicht erkannt wird. Die gestellten Anforderungen der Umwelt sind stets die gleichen wie sie an alle neurotypischen Menschen auch gestellt werden und können von der betroffenen Person kaum oder nur zeitlich begrenzt mit übermenschlichem Einsatz erfüllt werden. Ein Leben am limit und im Dauerstress sind die Folge. Kommt es schließlich zur Diagnose, fällt es schwer die Kompensationstrategien zu ändern oder darauf zu verzichten, denn die Umwelt reagiert nicht mit Verständnis, sondern im Allgemeinen mit: „Du bist viel zu sozial unterwegs, um Autistin zu sein.“ Das ist wenig hilfreich und schon gar nicht unterstützend, darum ist Asperger-Autismus oder hochfunktionaler Autismus auch keine "milde" Form von Autismus. Diese milde und ein bisschen gibt es nicht. Der Leidensdruck ist enorm, selbst wenn dieser keinen Ausdruck oder zumindest keine Resonanz findet.
Ob introvertiert oder auf welche Weise auch immer extrovertiert, am Ende können Ausgrenzung und Mobbing, Depressionen (inkl. Burnout), Angst- oder Essstörungen sowie andere Folgekrankheiten (Komorbiditäten) stehen. Für Verantwortliche in der Umgebung gilt es daher einerseits, das Mädchen zu schützen, andererseits ihm Raum zu geben, die eigenen Möglichkeiten zu entfalten und zu sich selbst zu stehen, für sich einzustehen. „Aufklärung“ in vielerlei Hinsicht ist nötig. Hierzu gehören das Erklären des Verhaltens anderer und Kenntnis über den eigenen Körper – und dies ohne drumherum Reden, sondern in sehr deutlicher Sprache: Welche alltagstauglichen Hygienemaßnahmen sind wichtig? Was geschieht bei der Menstruation? Gibt es einen Kompromiss zwischen modischer und (z.B. auf der Haut) gut verträglicher Kleidung? Wenn Mädchen sich schminken, so tun sie das nicht allein aus Freude an verschiedenen Farben, sondern zielen zudem auf Wirkungen bei anderen, wollen etwas erreichen. Autistischen Mädchen ist dies nicht ohne Weiteres klar und manch eine Reaktion von Jungenseite mag sie überraschen. Folgenabschätzung fällt schwer. Da Autisten eher alles wörtlich nehmen und auch glauben, werden sie vielleicht zu Handlungen gebracht, die sie eigentlich nicht wollen. Nicht immer geht es um „Liebe“, wenn von „Liebe“ die Rede ist. Was genau geschieht beim Sex? Worauf ist zu achten, inkl. Verhütung usw.? Um Ausgrenzung zu vermeiden, ist das Mädchen evtl. zu vielem bereit und kann leicht ausgenutzt werden (Botengänge, Geld leihen, einem Jungen im Auftrag eines anderen Mädchens etwas ausrichten ...), zumal Autisten generell eher hilfsbereit, loyal und solidarisch sind. All dies muss zur Sprache gebracht werden.
Hinzu kommt Unterstützung beim Erkennen des Unterschiedes zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Hier können sich enorme Diskrepanzen auftun. Bewusst in den Spiegel schauen: Wen genau siehst du da? Wie sehen dich andere? Das braucht Begleitung und Anleitung, denn die Fähigkeit zur Perspektivübernahme ist bei Menschen mit Autismus erschwert. Daraus resultiert ein Wunsch nach Klarheit. Dieser schlägt auch bei Mädchen und Frauen im Spektrum mit einer starken Tendenz zur Direktheit, Unverblühmtheit und gnadenloser Ehrlichkeit zu Buche, die auf viele Menschen verstörend, unsensibel, arrogant oder grenzüberschreitend wirkt. Dies wirkt sich durchaus nochmal dramatischer auf die sozialen Interaktionen und Beziehungen aus, da dies der Erwartungshaltung und dem vorherrschenden Rollenbild wiederspricht.
Natürlich lässt sich einwenden, dass dies doch für alle gilt. Neurotypische Menschen können oft nicht verstehen, wie sehr sich die Wahrnehmung und das Erleben autistischer Personen von ihnen unterscheidet, selbst wenn nach außen die Unterschiede nicht so sichtbar sind. Genau dies macht es ja so schwierig: Würde jemandem ein Arm oder ein Bein fehlen, so wäre dies sichtbar und die anderen könnten sich darauf einstellen. Bei autistischen Menschen ist vieles aber nicht sichtbar und doch zugleich sehr anders. Da sind Missverständnisse und Verletzungen geradezu vorprogrammiert. Für Mädchen gilt das besonders, denn Interaktionen zwischen Mädchen haben eine enorme Fülle von Nuancen durch Blicke, Mimik, Gesten, Stimm- und Sprechmodulation, Kleidung, Bewegung … Es ist daher nicht ungewöhnlich, wenn autistische Mädchen gerne mit Jungs spielen, deren Verhalten weniger nuanciert und „zwischen-den-Zeilen“ daherzukommen scheint, und sie würden das gerne noch über die Kindheit hinaus tun, was dann in der Regel jedoch nicht mehr möglich ist aufgrund pubertärer Veränderungen und rätselhafter „Verwandlungen“ der Peers. Als Verantwortliche im Umfeld ist es wichtig, sich über all dies nicht lustig zu machen, sondern Besonderheiten zu akzeptieren, Akzeptanz von anderen auch einzufordern (wenn sinnvoll, nach Erklärung) und das Selbstbewusstsein, das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeitserfahrung der Mädchen zu stärken. Gewiss können Autisten, ob Mädchen oder Junge, nicht vor allem und für’s ganze Leben geschützt werden. Manch eine Erfahrung muss man wohl selbst machen, auch wenn’s weh tut. Entsprechend ausgestattet aber gelingt es, nach dem Fallen wieder aufzustehen und weiterzumachen. Das gilt sicher auch für die Partnersuche. Die Introvertierte hat kaum Möglichkeiten, überhaupt Menschen und potentiellen Partnern zu begegnen. Die intensiv Extrovertierte wird schnell zur Last und als „klammernd“ empfunden. Die Tarnkappen-Extrovertierte hat gute Chancen, einen Partner zu finden, entdeckt aber irgendwann evtl., dass ihr Beziehungs- oder gar Eheleben oft ein Theaterspiel war. Da Autisten besonders loyal sind, fällt Trennung besonders schwer. Welche Entscheidungen sind dann zu treffen? Für manche ist ein Partner, der ebenfalls irgendwie „besonders“ ist, der vom eigenen Umfeld evtl. schwerer akzeptiert wird, weniger eine „Vorzeigeperson“ darstellt, deutlich jünger, älter oder was auch immer ist, vielleicht gerade der richtige. (Solange es um eine liebevolle Partnerschaft auf Augenhöhe geht, versteht sich.) Je weniger Verurteilungen, Urteile und Bewertungen, umso besser. Eine Gesellschaft voller Akzeptanz von Vielfalt tut allen gut, neurotypischen Personen, autistischen Jungen und Männern, besonders Mädchen und Frauen im Spektrum.
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